Ein unbekannter Bekannter

Remy Filipovitch ist ein unbekannter Bekannter. Der in Vilnius, Litauen, geborene Musiker hat mit so vielen bekannten Kolleginnen und Kollegen konzertiert und aufgenommen, dass die Namensliste genügend Stoff für ein Lexikon der aktuellen Musikszene hergeben würde. Umso mehr wundert, dass sein Name aber fast nur Insidern ein Begriff ist. Grund mögen seine bescheidene Zurückhaltung und seine Vielseitigkeit sein, die eine griffige Einordnung in bestimmte musikalische Schubladen geradezu verbietet.

Sein Hauptinstrument ist das Tenorsaxofon, aber auch auf der Klarinette und der Querflöte weiß er zu überzeugen. Das Klavier ist das Arbeitsmittel der Wahl, wenn es um Kompositionen und Arrangements geht, die Remy für sich und seine Gruppen, oft aber auch für andere Formationen - seien es kleine Ensembles oder große Orchester - schreibt. Ihn Jazzmusiker zu nennen, reicht nicht, seine Bandbreite zu beschreiben. Jazz ist seine Leidenschaft, aber klassische Musik, Folklore und gelegentlich Musical, Theater-produktionen und auch einmal die leichte Muse sind weitere Facetten seines Schaffens.

Schon als Dreikäsehoch wollte Remy Filipovitch Musiker werden. Im stockkonservativen Litauen, das seinerzeit noch ganz unter sowjetischer Fuchtel stand, waren solche Ambitionen eher verdächtig. Zumindest, wenn es über nationale Folkore hinausging. Die war das Metier von Remys Vater, Dirigent eines riesigen staatlichen Ensembles mit über hundert Musikern und Tänzern. Immerhin hatte er gute Beziehungen und konnte dem Sohn eine Klarinette beschaffen. Über die tägliche Dosis der Jazzsendung von "Voice of America" hatte Remy Filipovitch die Musik von Benny Goodman und anderen Jazzgrößen kennengelernt und war von da an Feuer und Flamme für den Jazz.

Ohne Noten, nur nach dem Gehör, schaffte er sich die ersten Stücke drauf, meist Jazzhits aus dem Radio. Bald fanden sich Gleichgesinnte zu einer Band zusammen, die nach kurzer Zeit ihre ersten Auftritte hatte. Der Beifall bestärkte den Entschluss, Jazzmusiker zu werden. Als 13-jähriger konnte er sich von einem Verwandten ein Altsaxofon leihen. Etwa zur gleichen Zeit hörte er zum ersten Mal modernen Jazz, Art Blakey und seine "Jazzmessengers". Der packende Drive des Bebop und Hardbop ist bis heute so etwas wie Remys musikalische Heimat geblieben.

Doch als der Verwandte sein Instrument wiederhaben wollte, war guter Rat teuer. Remy hatte Auftrittsmöglichkeiten, aber kein Instrument. Gelegentlich konnte er ein Saxofon ausleihen, musste aber dafür Leihgebühren in Form von Naturalien, etwa Weintrauben, auf den Tisch legen. Aber es war nicht damit getan, ein Instrument zu haben. Um Saxofon oder Klarinette zum Klingen zu bringen, braucht man Rohrblätter. Und die waren im gesamten Ostblock Mangelware, in Litauen erst recht. Versuche, Blätter aus normalem Holz zu schnitzen, mussten fehlschlagen. Immerhin konnte der Vater gelegentlich das ein oder andere Saxofon- oder Klarinettenblatt auftreiben.

Remy ließ sich aber in seiner Jazzleidenschaft nicht beirren. Bald spielte er mit litauischen und russischen Kollegen zusammen, konnte sogar hin und wieder Aufnahmen für den Hörfunk machen, die ihm zum Teil achtbare Gagen einbrachten. Inzwischen war er aber die Restriktionen in Litauen leid. Im Nachbarland Polen, so hatte er erfahren, war alles viel lockerer. Vor allem dort hatte Jazz einen hohen Stellenwert, gab es namhafte Musiker, die sogar im Westen auftreten konnten. Dank der polnischen Wurzeln seiner Mutter konnte Remy 1966 nach Warschau übersiedeln und bald darauf sein erstes eigenes Saxofon kaufen: ein funkelnagelneues Tenorsaxofon der tschechischen Firma Amati bei Pilsen. Dieses Instrument hatte seine Mutter aus einem kleinen Erbe finanziert.

In Warschau konnte Remy am Chopin-Konservatorium endlich Musik studieren: Musikpädagogik, Musiktheorie und Querflöte. Damals gab es in Warschau keinen Saxofonlehrer. Obwohl das Studium der klassischen Musik mit knallhartem Drill einherging, suchte Filipovitch Anschluss an die lebendige Warschauer Jazzszene und spielte bald mit international bekannten Stars wie Thomas Stanko, Zbigniew Namyslowski und Zbigniew Seifert. Das Prinzip der Jazzimprovisation habe er damals eher gefühlsmäßig als nach den harmonischen Strukturen eines Stückes erfasst, erinnert sich der Saxofonist.

Sein "tägliches Brot" verdiente er damals in den Semesterferien als Unterhaltungsmusiker in einer Hotelband auf der Krim-Halbinsel. Genug, um während der übrigen Zeit des Jahres über die Runden zu kommen. Bereits bei dieser Gelegenheit lernte Remy seine spätere Frau Ulla kennen.

1971 ermöglichte eine in Rochester, N. Y., als Musikprofessorin lehrende Tante dem Neffen eine Reise in die USA. Er erhielt ein Stipendium für das Berklee College of Music in Boston, der weltweit renommiertesten Schule für Jazz. Seinen Lebensunterhalt verdiente er sich als Taxifahrer. Unter der Anleitung von Andy McGhee und Joe Viola perfektionierte er sein Saxofonspiel und übte sich darüber hinaus in der hohen Kunst der Improvisation nach den Regeln der Jazz-Harmonielehre. Komposition und Arrangement belegte er bei Don Sebesky, eignete sich so einen breitgefächerten Kanon an Ausdrucksmöglichkeiten an, die bis heute Grundlage seiner Arbeit sind.

Acht Semester, vier Jahre, blieb Filipovitch am Berklee College, arbeitete und spielte in dieser Zeit mit vielen namhaften Größen der amerikanischen Szene, darunter dem Schlagzeuger Alan Dawson. dem Vibrafonisten Gary Burton und dem Trompeter Ted Curson. Nach weiteren Studien am Mozarteum in Salzburg bei George Gruntz in Salzburg sollte es wieder zurück nach Warschau gehen. Doch der nur als Zwischenstopp geplante Besuch bei seiner Freundlin aus der Krim-Zeit wurde zur nächsten Station. Seither lebt Remy auf einem Bauernhof in Essen-Kettwig und ist fest in der Region verwurzelt.

Dass er hier von Anfang an viele gute Arbeitsmöglichkeiten fand, mag dazu beigetragen haben, dass er dennoch vor allem Kennern bekannt ist. So vielfältig und unterschiedlich sind seine Talente und die entsprechenden Engagements. Lange war er eine gewichtige Saxofonstimme in der von Paul Kuhn geleiteten Bigband des SFB, flog mehrmals in der Woche zu Proben, Auftritten und Aufnahmen des Orchesters von Düsseldorf nach Berlin. In Köln spielte er im Rundfunkorchester und in der Media Band von Harald Banter, für die er auch raffinierte Arrangements im Grenzbereich zwischen Jazz und Unterhaltungsmusik beisteuerte. Hinzu kamen Engagements am Theater, so zum Beispiel 1980 für die deutschsprachige Uraufführung der Rocky Horror Show im Grillo-Theater Essen.

Ein weiterer wichtiger Schwerpunkt in Remy Filipovitchs Arbeit ist seit vielen Jahren die Lehrtätigkeit - zunächst an der Folkwang Universität Essen-Werden, später auch am Jazzlabor der Universität Duisburg-Essen.

Was er am Berklee College in Boston selbst erfahren durfte, gibt er gerne weiter. In seinen Universitäts-Lehrgängen, aber auch bei Workshops. So bei den Kursen, die er unter dem Titel "Berklee in Germany" an der Landesmusikakademie NRW Heek-Nienborg im Münsterland organisierte und für die er namhafte Dozenten aus dem Lehrkörper des Berklee College gewinnen konnte. Darunter Vibraphon-Star Gary Burton.

Während seiner Tätigkeit an der Uni Duisburg-Essen lotete er mit dem "Ensemble für experimentelle Musik" die Chancen und Möglichkeiten der spontanen Improvisation aus, die auch Musikern ohne schulische Vorbildung und Notenkenntnisse ermöglicht, in jeder beliebigen Besetzung musikalisch zu kommunizieren.

Als Vorsitzender der Jazz Offensive Essen (JOE) gab er lange Jahre der lokalen und regionalen Szene wichtige Impulse und kuratierte die Reihe "Jazz & More", die regelmäßig jungen Künstlern im Gewölbekeller des Alten Bahnhofs in Essen-Kettwig ein Forum bietet.

Bei all dem vielfältigen, oft uneigennützigem Engagement für unterschiedliche Aspekte der Musik, scheint es, als seien in seiner bisherigen langen Laufbahn immer nur gelegentlich kleine Zeitfenster geblieben, in denen er seine ureigene musikalische Botschaft formulieren konnte. So sind die vergleichsweise wenigen Aufnahmen, die unter seinem Namen auf den Markt gelangten, eher Momentaufnahmen unterschiedlicher Schaffensperioden als ausführliche Dokumentation seiner Entwicklung.

"All Night Long", die erste LP unter eigenem Namen, erschien 1980 in Quartett-Besetzung mit durchweg eigenen Kompositionen. Remy Filipovitch bläst hier ein ebenso flüssiges wie voluminöses Tenorsaxofon, das streckenweise an eine Mischung aus Einflüssen von Joe Henderson und Benny Golson erinnert, aber zugleich auch eine eigene Sprache mit meldodischen Raffinessen spricht. Frank Wunsch am Piano, Bodo Klingelhöfer am Bass und Schlagzeuger Michael Peters sind ebenso einfühlsame wie souveräne Begleiter.

Zwei Jahre später gibt sich Remy Filipovitch auf "All Day Long" mit einem internationalen Trio die Ehre. Am Bass ist der polnische Virtuose Roman Dylag, Schlagzeug spielt der Brite Ronnie Stephenson. Auch für diese Produktion hat Remy alle Stücke selbst beigesteuert und so die vielleicht bisher vollständigste und aussagekräftigste Visitenkarte seiner Arbeit abgeliefert. "All Day Long", das ist wirklich Filipovitch pur, konzentriert und nachhaltig.

Drei sehr unterschiedliche Duo-Produktionen spiegeln weitere Facetten seines Spiels.
"Open Your Eyes" mit dem litauischen Perkussionisten Gediminas Laurinavicius,
"Mysterious Traveler" mit dem Keyboarder und Elektronik-Spezialisten Martin Buntrock (alias "Ron Marvin") und "Alone Together" mit dem amerikanischen Pianisten Will Boulware.

"Open your Eyes" ist ein weltmusikalischer Ausflug unter anderem mit starken Erinnerungen an Afrika. Auf "MysteriousTraveler" präsentiert sich Filipovitch als Multiinstrumentalist auf verschiedenen Saxophonen, Klarinetten und Querflöten.

Mit "Alone Together" nehmen sich Remy und sein amerikanischer Partner bekannte Standards aus dem "Great American Songbook" und von Jazzheroes an und gewinnen diesen überzeugende und eigenständige Deutungen ab.

Schlicht "Go" steht über der CD, die Remy Filipovitch 2002 mit einem früheren Gefährten aus Warschauer Zeiten, Zbiegniew Namyslowski (Alt- und Sopranino-Saxofon) und jungen polnischen Musikern, aufnahm. In diesem Kontext lassen sich beide Saxofonisten von der blendend eingespielten Rhythmusgruppe zu wahren Höhenflügen treiben und inspirieren sich gegenseitig, ohne dass dies je auch nur im Geringsten in billige Kraftmeierei ausartet. Man wünscht sich, diese Formation, hätte die Chance, über die Grenzen von Zeit und Raum weiter zu bestehen und vor allem live ausgelotet zu werden. Die Komposition von Remy und Zbigniew animieren zu gehaltvollen Improvisationen.

Auf der CD "Sixty Bicycles" ist Remy Filipovitch mit seiner (fast) deutschen Working Group zu hören: Thomas Hufschmidt am Piano, Walfried Böcker am Kontrabass und der Amerikaner Allan Jones (Schlagzeug) gingen 2011 gemeinsam auf Tour und anschließend ins Studio, um ein sehr dichtes Album einzuspielen. Leider sind die ökonomischen Gegebenheiten für Jazzmusiker selten so, dass eine feste Gruppe genug Spielmöglichkeiten findet und kontinuierlich zusammenarbeiten kann. Viele Musiker müssen ihre Energie auf verschiedene Projekte verteilen und sich mit Brotjobs über Wasser halten. Im besten Fall sind das Lehrtätigkeiten an Musikhochschulen. So ist beispielsweise Thomas Hufschmidt Professor für Jazzpiano, Theorie und Bigband-Leitung an der Folkwang Universität Essen, wo auch Remy Filipovitch fast zwei Jahrzehnte unterrichtete.

Thomas Hufschmidt ist ebenfalls an der jüngsten CD-Produktion von Remy Filipovitch von 2015/16 beteiligt. Auf "Good Times" spielt er Keyboard, während der Pole Lukasz Flakus ein starkes Piano beisteuert. Mit der Sängerin Mara Minjoli, Markus Wienstroer (Gitarre), Juan Camilo Villa Robes (Elektrobass) und Andy Pilger (Schlagzeug) zeigt sich Filipovitch hier deutlich zeitgenössisch-populären Sounds aufgeschlossen, die sein ebenso viriles wie harmonisch raffiniertes Tenorsaxofon kongenial einbetten.

Hans-Jörg Hussong 2016